Die Feldenkraismethode
Feldenkraislektionen haben den Zweck Fähigkeiten zu erweitern, d.h. die Grenzen des Möglichen zu erweitern, dem Schüler das Unmögliche möglich zu machen, das Schwierige leicht und das Leichte angenehm. Nur jenes, was der Schüler leicht und gerne tut, wird ihm zur Gewohnheit werden.
Je mehr seine Fähigkeit zunimmt, desto weniger braucht er seine bewusste Willenskraft. Wer sich nur auf seine Willenskraft verlässt, wird hauptsächlich seine Fähigkeit entwickeln, sich anzustrengen und sich daran gewöhnen sehr viel Kraft für Handlungen zu brauchen, die er ebenso gut mit viel weniger, aber richtig gesteuerter und dosierter Kraft ausführen könnte. Beide Verfahren werden ihr Ziel erreichen, aber das erstere kann auch beträchtlichen Schaden anrichten. Kraft, die nicht in Bewegung umgesetzt wird, verteilt sich und richtet Schäden in den Muskeln, Gelenken und anderen Körperteilen an, die für die Anstrengung verwendet wurden. Gestörte und somit gehemmte Entwicklung hinterlässt Spuren in sämtlichen Funktionen wie Atmung, Verdauung, Muskelkontrolle, Beweglichkeit, Sozialverhalten, Geschlechtsakt usw. Der Körperbau ähnelt drei auf den Kopf gestellten Pyramiden, wo jede mit der Spitze auf der Basis der nächsten steht. Der schwere Kopf mit 4,5-6 kg mit dem schmalen, leichten Hals auf den Schultern, der Oberkörper mit der Taille auf dem Becken und das Becken auf den Füßen. Der menschliche Körper ist so beschaffen, dass er der Schwerkraft mühelos widerstehen und sich fast ohne Energieverbrauch bewegen kann bzw. könnte.
Verjüngungskur Feldenkrais
„Altwerden“ beginnt – oft frühzeitig – damit, dass man Haltungen und Bewegungen wählt, die der Vorstellung angemessen erscheinen, die man von sich gemacht hat, wie etwa der Würde der gesellschaftlichen Stellung, dem Erfolg, der Sportlichkeit, der Stärke oder Schwäche, die man darstellen oder verdecken möchte usw. Dadurch schaltet man andere Bewegungen und Haltungen aus, zu denen man bald auch tatsächlich nicht mehr fähig ist.
Man springt nicht mehr über Gräben, klettert nicht mehr über Zäune, setzt sich nicht mehr auf den Boden, glaubt, sich nur mehr mit Mühe bücken zu können – bis man schließlich „nicht mehr kann“. Versuche haben gezeigt wie solche meist unwillkürlich selbst auferlegten Einschränkungen viel dazu beitragen, dass und wie man altert. Führt man jedoch den gewöhnlichen Gebrauch wieder durch, so wird nicht nur die Beweglichkeit verbessert, sondern der ganze Mensch gleichsam verjüngt und neu belebt.
Unser sensomotorisches System reagiert im Laufe unseres Lebens ständig mit spezifischen Muskelreflexen auf die täglichen Belastungen und Traumata. Diese Reflexe rufen, wenn sie wiederholt ausgelöst werden, gewohnheitsmäßige Muskelverspannungen hervor, die wir – willkürlich – nicht entspannen können. Diese Muskelkontraktionen werden mit der Zeit so vollkommen unwillkürlich und unbewusst, dass wir schließlich nicht mehr wissen, wie wir uns frei bewegen können. Das Ergebnis sind Steifheit, Schmerzen und ein eingeschränkter Bewegungsspielraum. Dieser durch Gewöhnung herbeigeführte Zustand mangelnden Erinnerungsvermögens daran, wie sich bestimmte Muskelgruppen anfühlen und wie man sie kontrollieren kann, wird sensomotorische Amnesie bezeichnet. Dieses Ereignis und seine sekundären Folgeerscheinungen halten wir fälschlicherweise für das „Älterwerden“. Die sensomotorische Amnesie ist eine erlernte adaptive Reaktion und kann daher auch wieder verlernt werden.
Wirkung auf die Psyche des Menschen
Feldenkrais hat beobachtet, dass psychiatrische Behandlung nur dann eine dauerhafte Wirkung erzielt, wenn zugleich eine Änderung im Körperverhalten eintritt. Geschah dies jedoch nicht, so war die Behandlung ein rein verbaler Vorgang ohne effektive Wirkung auf Dauer.
Seitens des Patienten blieb die Sprache ohne Realitätsbezug – wie wenn man Worte aus einer Sprache in eine andere übersetzt, ohne den Sinn zu verstehen. Fast alles, was wir „Krankheit“ nennen, müsse der Behandlung über den Körper oder über die Psyche gleichermaßen zugänglich sein. Es gibt keine Sinnesempfindung, kein Gefühl, kein Denken und selbstverständlich keinerlei Bewegung, die sich nicht als Veränderung im Gesamtverhalten zeigten. Wir können uns keines Gedankens oder Gefühls bewusst werden, bevor er oder es durch eine Mobilisierung in der Motorik seinen Ausdruck findet und dorther als Rückmeldung zur sensoriellen Großhirnrinde gelangt. Umgekehrt bringen Änderungen im Körperverhalten Änderungen im Sinnesempfinden, im Gefühl und Denken mit sich. Es gibt zwei Varianten das Verhalten zu verändern, über den Körper oder über die Psyche. Feldenkrais zeigt, dass die Unterscheidung lediglich verbal ist und dass eine Änderung nur dann eintreten kann, wenn sie in Körper und Psyche gleichzeitig geschieht. Tut sie das nicht, ist sie also nicht integral (was auf der intellektuellen Ebene etwa dem entspricht, wenn einer etwas weiß, ohne es zu verstehen) und wird nur so lange erhalten bleiben, als der Betreffende sich der Änderung bewusst bleibt, also bis er nicht auf die gewohnte Weise zu reagieren beginnt. Meistens genügt eine Ablenkung und man findet aus dem Rückfall ohne Hilfe nicht mehr hinaus. Ist man jedoch einmal in der Lage das Körperbild zu prüfen, so kann man die Rückkehr der unerwünschten, gewohnheitsmäßigen Konfiguration beizeiten bemerken und mit der Zeit nach Belieben absichtlich hemmen oder erleichtern. Das lässt sich lernen.
Organisches Lernen statt Therapie
Organisches Lernen unterscheidet sich von Therapie. Therapie soll den status quo wiederherstellen. Lernen ist ein Prozess der Zeit, der jedoch im Gegensatz zur Therapie über den status quo, über das früher bereits Erreichte hinausführt.
Es ist der spielerische, absichtslose Lernprozess, durch den wir als kleine Kinder gelernt haben, und der dann irgendwie zum Stillstand gekommen ist. Was wir auf diese Weise gelernt haben, ist von Mühelosigkeit gekennzeichnet. Das Gefühl der Anstrengung ist kein Maßstab der tatsächlich geleisteten Arbeit, sondern der Art wie sie ausgeführt wurde. Größe und Stärke der Muskeln nehmen von der Peripherie zur Körpermitte zu. Korrekt koordiniertes Handeln fühlt sich daher mühelos an. Wenn ein Körper sich von einer Stellung in eine andere bewegen will (etwa aus dem Liegen ins Sitzen), so ist die Bahn eines jeden Knochens im Skelett die gleiche, das heißt die kürzestmögliche Bahn. Die Muskulatur arbeitet so, dass sie die betreffende Stellung herbeiführt und gehorcht dabei den Knochenbahnen. Bei idealer Haltung ist der Mobilisierungsgrad für jeden Muskel gleich, die Beanspruchung jedes Muskels proportional zu seinem Querschnitt. Der Energieaufwand ist minimal. Eine Änderung im Muskulärverhalten bringt entsprechende Änderungen in der Hirnrinde mit sich und strahlt von ihr aus – genauso, wie Furcht das Fallangst-Verhalten auslöst (und zugleich das Angstgefühl) und umgekehrt.
Integration – von Kopf bis Fuß
Störungen in den vier Bereichen der Augen, des Halses, des Kreuzes oder der Hüftgelenke sind immer begleitet von Störungen der übrigen drei und wirkt sich auch auf die Atmung aus. Es braucht nicht viel Übung, um Augenbewegungen bis in die Zehen spüren zu können. Die (Dreh-)Beweglichkeit von Augen und Kopf bestimmt die Beweglichkeit sämtlicher Gelenke und umgekehrt. An jedem Punkt ist der gesamte Mensch betroffen.
Feldenkrais wird auf zwei verschiedene Arten gelehrt:
Funktionale Integration (functional integration) – Einzelarbeit
Funktionale Integration ist Einzelarbeit. Dabei wird der Schüler vom Lehrer bewegt. Der Lehrer kommuniziert nonverbal mit dem Nervensystem des Schülers. Es kann konkret auf die aktuellen Beschwerden und Bedürfnisse des Schülers eingegangen werden.
Bewusstheit durch Bewegung (awareness through movement) - Gruppenarbeit
Bewusstheit durch Bewegung findet in der Gruppe statt. Die vom Feldenkraislehrer angesagten Bewegungen werden von den Schülern ausgeführt. Dabei liegt der besondere Fokus auf der Wahrnehmung von Veränderungen im gesamten Körper.
Moshé Feldenkrais
Moshé Pinchas Feldenkrais wird am 6. Mai 1904 in Slawuta in der Ukraine geboren. Moshé Feldenkrais macht sich im Alter von knapp 15 Jahren auf den Weg nach Palästina. Er tritt der jüdischen Selbstverteidigungsorganisation Haganah bei, lernt für den Straßenkampf Jiu-Jitsu und entwickelt eigene Griffe und Bewegungsabläufe dieser Kampfmethode.
Ende der zwanziger Jahre erleidet Moshé Feldenkrais beim Fußballspielen einen Unfall, dessen Spätfolgen zur Entwicklung seiner späteren Lernmethode führen. Moshé Feldenkrais studiert ab Herbst 1930 Ingenieurwissenschaften. Er erlernt Judo und wird Judo-Botschafter in Paris. Nach dem deutschen Angriff auf Frankreich flieht er mit seiner Frau Yona nach Großbritannien. Er arbeitet in der U-Boot-Forschungsabteilung und gibt Judo-Unterricht. Nach einer neuerlichen Knieverletzung beginnt er mit der Entwicklung seiner Lernmethode. 1950 geht Moshé Feldenkrais wieder zurück nach Israel, wo er zunächst für die Forschungsabteilung des Militärs arbeitet. 1953 beginnt er seine Tätigkeit als Lehrer in Tel Aviv. Ende 1956 beginnt der von Schmerzen geplagte David Ben-Gurion bei Feldenkrais Unterricht zu nehmen. Im September des folgenden Jahres gehen Fotos des auf dem Kopf stehenden israelischen Premierministers um die Welt.
1969-1971 bildet Feldenkrais in Tel Aviv dreizehn Menschen zu Lehrern seiner Methode aus. 1971 unterrichtet Moshé Feldenkrais an der Universität von New York. Es folgen zahllose Vorträge, Kurse und Workshops, teilweise auch auf Einladung von Universitäten und Regierungsstellen in den USA und Kanada. Er bildet weitere Lehrer aus, reist viel und schreibt Bücher wie „Abenteuer im Dschungel des Gehirns, der Fall Doris“ und „Die Entdeckung des Selbstverständlichen“.
Ende September 1981 erleidet Moshé Feldenkrais in Zürich einen Zusammenbruch, wird operiert und fliegt entgegen ärztlichen Rats bald darauf nach Tel Aviv zurück. Er beginnt wieder zu arbeiten und erleidet in Folge mehrere Schlaganfälle. Am 1. Juli 1984 stirbt Moshé Feldenkrais in seiner Tel Aviver Wohnung.
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